Es ist 23:18 Uhr und ich habe soeben den Roman “Die Gesichter” von Tom Rachmann, ein Geburtstagsgeschenk meiner Mutter, dass ich mir ausgesucht hatte, beendet. Ein Buch, dass mich noch mehr als sein Vorgänger “Die Unperfekten” aufgewühlt hat. Das muss ich jetzt einfach noch aufschreiben, solange meine Eindrücke frisch sind.
So frisch, wie die Ölfarbe auf dem letzten, dem 14. Gemälde der Reihe “Die Gesichter”, des vor Jahren verstorbenen Malers Bear Bavinsky, das im letzten Kapitel von Marsden und Jing zusammen mit all seinen 26 Originalen, die in allen Herren Ländern, in Museen und Privatsammlungen hängen, gefunden wird. Wie das? Das beschreibt dieser großartige, einfühlsame und aufwühlende Roman 411 Seiten.
Es geht um Pinch, Charles Bavinsky, des großen Malers Sohn, der so gar nichts von seinem Idol und Unterdrücker hat. Denn der Roman zeichnet vor der Kulisse der Künstlerszene und des Kunsthandels den Rum und Verfall des großen, bärigen und extrem charismatischen Mannes, von dem für seine Umgebung, besonders für Pinch Wohl und Weh abhängt.
Künstler neben sich duldet der König nicht und so erklärt er seine zeitweilige Frau und derer gibt es viele sowie seinen verlassenen Sohn kurzerhand als völlig unbegabt. Auf die Zuwendung und Anerkennung des Geliebten und Vaters angewiesen, entwickeln sich diese Beiden und alle anderen im Dunstkreis des liebenswürdigen Despoten, auf kleiner, oder gar erlöschender Flamme.
Nachdem er seine Frau und seinen Sohn in Italien sitzen lässt, um zwischen USA und Frankreich zu pendeln, zu prahlen und zu enttäuschen, versuchen sich beide künstlerisch. Sie töpfert wie zu Anfang Ihrer Ehe, Pinch beginnt zu malen. Unter gegenseitiger Bestätigung klammern sie sich aneinander fest, bis Pinch nach Jahren zu seinem Idol nach USA reist, wo Bear mit nur einem Satz jegliche künstlerische Zukunft für Pinch zunichte macht.
Er promoviert schlussendlich in Kunstgeschichte und endet nach diversen Wirren als Italienisch Lehrer für Immigranten. Seinem Vater bleibt er stets ergeben, worüber er seine Freundin und seine Mutter verliert. Die eine verlässt ihn, die andere bringt sich um.
Er ist ein intelligenter, aber emotional zurückgebliebener Mensch, a là Sheldon Cooper, der durchaus begreift, dass ein Vater ihn ausnutzt und enttäuscht, doch solange es ihn selbst betrifft, akzeptiert er die Behandlung als gerechtfertigt ob seiner Unbedeutendheit. Als seine Schwester Birdie, eine von 12 Halbgeschwistern, extrem in der Klemme steckt und dringend Geld benötigt, zwingt ihn die Ablehnung seines Vaters seiner Tochter zu helfen zu einem gewagten Coup, den man ihn niemals zutraut.
Er fälscht eines der großen Werke seines Vaters, dass nie ein Mensch zuvor gesehen hat, da dieser seine Bilder nur gesammelt und nur im Museum veröffentlichen will. Und der vermeintlich so untalentierte Pinch schafft es die gesamte Kunstwelt in ihrer Gier nach den verborgenen Bavinskys zu täuschen. Den Erlös, 70.000 Dollar, schenkt er Birdie.
Natürlich darf Bear niemals von dem Betrug erfahren. Doch diese Hoffnung bleibt unerfüllt. Es kommt zum großen Showdown, in dem er den Sohn verstößt, nicht ohne im Zorn zuzugeben, dass er mit Absicht das Talent seines Sohnes geleugnet hat, da dieser ja schließlich ihm huldigen musste. Auf der krampfhaften Suche nach einem Netzwerk für sein Handy, um die Polizei zu rufen und seinen Sohn festnehmen zu lassen, kommt Bear in den französischen Wäldern ums Leben, vielmehr läßt Pinchs langjähriger Freund Marsden ihn dort sterben.
Pinch erbt alles, was die Halbgeschwister auf die Barrikaden steigen läßt. Sie wollen das Erbe aufgeteilt sehen, doch auch nach dem Tod und trotz des Geständnisses seines Vaters, dass sein ganzes Leben zerstört hat, bleibt er Bear treu und möchte seine Werke gemäß seinem Wunsch als einzigartige Sammlung erhalten. Was bleibt also übrig, um sein Talent zu nutzen und von allen Gemälden Kopien anzufertigen?
Was für ein Triumph, als ein um das andere Bild für horrende Preise verkauft wird.
Spät tritt Jing, eine Lehrerkollegin in sein Leben. Sie pflegt ihn, als er an Krebs erkrankt, doch hält sie ihn nicht davon ab, noch einige “Spätwerke” von Bear anzufertigen. Eine Reihe in ganz neuem Stil mit Namen: Die Gesichter.
Die Gesichter sind 13 Werke, die seine verlassenen und vernachlässigten Kinder darstellen und von der Kunstwelt frenetisch gefeiert werden.
Nach Pinchs Tod kümmert sich Jing darum, dass diese Bilder als Sammlung rollierend in allen bedeutenden Museen der Welt ausgestellt werden. Das 14., Pinch, legt sie unter sein ehemaliges Bett und betrachtet es hin und wieder.
Aber was wurde eigentlich aus den 26 Originalen?
00:09 Uhr – Das solltet Ihr unbedingt herausfinden.
Fazit: in “Die Unperfekten” geht es um den Hintergrund des professionellen, abgebrühten, verlogenen professionellen Journalismus. In “Die Gesichter” um die Kunstwelt, die mit genau den gleichen Adjektiven belegt werden kann. Beide Male schafft der Author es, mich für Gebiete zu interessieren, die ich mir im Grunde gar nicht aussuchen würde. Doch seine Sprache, seine Bilder, seine Tiefsinnigkeit und auch seine Bosheit und Klarheit ziehen einen magisch an. Wenn ich das Buch in vier Wörtern beschreiben müsste: Intelligenter Pageturner mit Tiefganz